Herr Lehmann ist Studienteilnehmer am Projekt Brain-IT, welches innovative Ansätze zur Prävention von kognitiven Beeinträchtigungen untersucht (siehe Projektbeschrieb). Herr Lehmann ist 84 Jahre alt und lebt mit seiner Frau, 4 Kindern und 9 Enkelkindern im Kanton Zürich. Nach dem «Gymi» und einem Doktortitel in Agrarwissenschaft hat er 35 Jahre in der landwirtschaftlichen Forschung gearbeitet. Er war körperlich und geistig sehr aktiv, bis er eines Tages stürzte, was alles veränderte.
Wie ist Ihnen aufgefallen, dass Ihr Gedächtnis nicht mehr so leistungsfähig ist?
Es kam schleichend. Angefangen hat es damit, dass ich mir Namen nicht mehr so gut einprägen konnte. Auch die verschiedenen Pflanzennamen, die ich aufgrund meiner Tätigkeit auf Latein und Englisch kennen müsste, fallen mir oft nicht mehr ein. Zudem kann ich mir keine Gesichter einprägen.
Sie hatten einen Sturz. Wie kam es dazu?
Vor knapp 2 Jahren war ich eine kleine Runde im Quartier spazieren. Plötzlich stand ich blutend bei meiner Frau im Türrahmen. Wie ich da hinkam – keine Ahnung. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Gemäss Erzählungen meiner Frau habe ich wirres Zeug geredet, meine eigene Tochter nicht mehr erkannt. Meine Frau und meine Tochter sind dann mit mir ins Universitätsspital Zürich gefahren, wo ich etliche Untersuchungen über mich ergehen lassen musste. Auch im Spital konnte ich die Fragen der Ärzte nicht richtig beantworten, das hat meine Frau für mich übernommen. Das Gedächtnis kam erst nach und nach wieder zurück. Nach drei Tagen durfte ich die Klinik verlassen, da ging es schon etwas besser, einfach noch etwas verlangsamt. In den anschliessenden Wochen wurden verschiedene neurologische Tests durchgeführt. Es wurde festgestellt, dass ich eine «leichte neurokognitive Beeinträchtigung » habe. Dabei haben mir die Ärzte auch von der Studie, welche Patrick Manser leitet, erzählt. Ich wollte jedoch am Anfang nichts von einer Teilnahme wissen, denn ich wollte lediglich meine Ruhe. Auch habe ich mir eingeredet, dass im Alter halt solche Stürze vorkommen.
Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie nun doch an der Studie teilnehmen?
Meine Kinder sind alle in medizinischen Berufen tätig und haben mich immer wieder darauf angesprochen und ein bisschen «gestupft». Schliesslich habe ich einen Anruf von Patrick Manser erhalten und mir dann einen Ruck gegeben.
Wie haben Sie sich nach dem Sturz gefühlt?
Ich war natürlich besorgt und fühlte mich beim Laufen unsicher. Daher habe ich begonnen, mit Stöcken zu gehen, damit ich diese Unsicherheit ausgleichen kann. Ausserdem habe ich nicht mehr die gleiche Kondition wie vor dem Sturz, ich werde viel schneller müde.
Anmerkung Patrick Manser: Man meint immer, Laufen sei ein automatisierter Prozess, aber das ist überhaupt nicht so. Das Gehirn muss ständig arbeiten, um den Gang zu kontrollieren. Dabei muss man unter anderem Hindernisse wahrnehmen und umgehen können und dabei Routen bilden und planen. Gehirn und Körperfunktionen sind eng miteinander in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden, um stabil gehen zu können: «Es ist sehr viel (Gehirn) Arbeit im Gange» kann man sagen.
Sie nehmen nun an der 12-wöchigen Studie teil. Wie muss man sich das vorstellen?
In einem ersten Schritt hatte ich mehrere Tests zu absolvieren. Diese waren teilweise sehr anspruchsvoll, da ich Geschichten wiedergeben oder Dinge in die richtigeReihenfolge bringen musste. In einem zweiten Schritt wurde von meinem Gehirn ein MRI gemacht. Meine Trainerin hat dann bei mir zu Hause ein Trainingsgerät installiert. Dieses ist mit dem TV verbunden. Darauf sind verschiedene Gedächtnis- und Geschicklichkeitsübungen programmiert, welche ich durch Schrittbewegungen lösen muss. Diese Übungen absolviere ich einmal pro Tag. Meine Fortschritte werden bei jedem Training gespeichert und das Niveau angepasst. Nach 12 Wochen werde ich die Tests und das MRI wiederholen. Dann wird unter anderem überprüft, ob sich meine kognitiven und körperlichen Fähigkeiten sowie mein Wohlbefinden verbessert haben.
Wie sich das Training auf das Resultat ausgewirkt hat, erfahren Sie in den Synapsis News vom März 2023.
Im Projekt «Brain-IT» werden innovative Ansätze zur Prävention von kognitiven Beeinträchtigungen untersucht. Dabei liegt der Fokus auf drei wichtigen – aber oft vernachlässigten – modifizierbaren (d.h veränderbaren) Risikofaktoren für kognitive Beeinträchtigungen, von welchen bekannt ist, dass sie eine wichtige Rolle im Krankheitsverlauf spielen können. Diese drei Risikofaktoren sind: (1) Körperliche Inaktivität, (2) kognitive Inaktivität und (3) Depressionssymptome.
Innerhalb der letzten zwei Jahre wurde in Zusammenarbeit mit Betroffenen sowie Experten verschiedener Fachbereiche ein Trainingsleitfaden speziell für ältere Erwachsene mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen entwickelt. Das Training beinhaltet körperliche und neurokognitive Aufgaben sowie Atemtraining und wird individuell an die Studienteilnehmenden angepasst. Es wird mit sogenannten Exergames (Videospiele, die durch körperliche Bewegungen gesteuert werden) durchgeführt und findet bei den Studienteilnehmenden zuhause unter individueller Betreuung statt.
Es konnte bereits gezeigt werden, dass das Training von Betroffenen gut aufgenommen wird, auf eine hohe Akzeptanz stösst und als nützlich empfunden wird. Die bisherigen Daten zur Wirksamkeit des Trainings sind ebenfalls vielversprechend. Deshalb wird aktuell eine Studie durchgeführt, welche die Wirksamkeit des Trainings genauer untersucht. Das Projekt wird an der ETH Zürich unter der Leitung von Prof. Eling D. de Bruin und Doktorand Patrick Manser durchgeführt.